Gabelentz — Grammatiker einer Sprache ohne Grammatik

Kennosuke Ezawa
Ost-West-Gesellschaft für Sprach- und Kulturforschung e. V., Berlin

In der Wissenschaft gilt ein Modell von dem Gegegenstand, der erklärt werden soll, nur solange, bis es nicht mehr taugt.

Bei der so genannten Chomskyschen Revolution in der Linguistik Mitte der 1950-er Jahre ging es darum, nach dem Versagen der strukturellen Beschreibung der Sprache im Bereich der Syntax den Gesichtspunkt umzukehren und vom intuitiven Wissen des Sprechers und Hörers auszugehen und die Erzeugung statt der Beschreibung von Sätzen als „generatives“ Modell der Grammatik einzuführen.

Georg von der Gabelentz, der 1881 seine „Chinesische Grammatik“ vorlegte, ging es darum, die chinesische Sprache als Gegenstand der Grammatik erst zu erschließen, nachdem die damaligen, an den indogermanischen Sprachen orientierten Sprachwissenschaftler versagt hatten, es zu tun, weil dieser Sprache morphologische Elemente (Deklinations- und Konjugationsformen u. a.), an denen sie sich sonst in der grammatischen Beschreibung einer Sprache orientierten, gänzlich fehlten. „Eine Sprache ohne Grammatik“ sollte eine Grammatik erhalten.

Die Grammatik, die Gabelentz entwickelte, war eine, in der es nicht mehr um Formen, sondern um Positionen der Elemente geht, denen grammatische Funktionen zukommen. Ein Subjekt wird nicht etwa durch seine Form als Nominativ, sondern durch seine syntaktische Position als Subjekt erkannt. Dadurch kann auch ein neuer Begriff des Subjektes entstehen. Gabelentz führte den Begriff des „psychologischen Subjektes“ (: Thema) ein, der sich vom herkömmlichen, morphologisch bestimmten „grammatischen Subjekt“ unterscheidet.

Eine Konsequenz aus dieser Umorientierung der Grammatik bei Gabelentz war die pragmatische Orientierung der Grammatik, die grammatische Gegenstände sichtbar werden lässt, die sonst nicht als solche wahrgenommen wurden, wie beispielsweise die Verwendungen des Artikels, der Konjunktivformen oder Modalpartikeln in der deutschen Sprache. Eine neue, „synthetische Grammatik“ des Sprechens statt der traditionellen, analytischen Grammatik der Einzelsprache konnte entstehen. Und auch eine universelle Grammatik wurde dadurch möglich, dass die Sprechhandlungen bestimmten (etwa logischen, raum-zeitlichen oder emotionalen) Kategorien unterliegen, die generell vorauszusetzen sind.

Die frühe Auseinandersetzung eines deutschen Sprachwissenschaftlers mit der scheinbar grammatiklosen Sprache hatte also Konzepte der Grammatik vorweggenommen, die in der heutigen Linguistik nacheinander ihre Geltung erlangt haben. Ja, es kam sogar soweit, dass aus einer universell orientierten Grammatik die neue linguistische Disziplin der Sprachtypologie entstand, ein Konzept, das Gabelentz in seinem letzten, posthum veröffentlichten Aufsatz vorgebracht hatte (Gabelentz 1894). 2009 ist von der Association for Linguistic Typology (ALT) der erste Georg von der Gabelentz Award an die amerikanische Forscherin, Carol Genetti, Santa Barbara, verliehen worden.

Am 9. und 10. August 2010 fand an der Humboldt-Universität zu Berlin die Internationale Gabelentz-Konferenz mit einer begleitenden Ausstellung statt. Hans Frede Nielsen, Odense, stellte die „Progress-in-Language“-Theorie von Otto Jespersen vor, der in seinen jungen Jahren als Student in Leipzig von Gabelentz einen entscheidenden Anstoß zu seiner Theorie erhalten hatte, die im Chinesischen und Englischen die letzte Entwicklungsstufe der menschlichen Sprache annahm. Ein biographisches „Lesebuch“ mit familien- und wissenschaftsgeschichtlichen Beiträgen über Gabelentz sowie ein Sammelband mit linguistischen Beiträgen zur Gabelentz-Forschung erscheinen demnächst beim Narr Verlag in Tübingen, bei dem 1969 die erste Reprintausgabe des Gabelentzschen sprachwissenschaftlichen Hauptwerks „Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse“ (1891, 2. Aufl. 1901) erschien. Die Ost-West-Gesellschaft für Sprach- und Kulturforschung, die die Gabelentz-Konferenz mit Ausstellung veranstaltet hat, wird weitere Publikations- und Veranstaltungsprojekte durchführen. Interessenten werden zur Mitwirkung herzlich eingeladen!

Erwähnte Literatur

Gabelentz, Georg von der. 1881. Chinesische Grammatik. Leipzig: T.O. Wigel. (Auf archive.org verfügbar.)

—. 1891, 2. Aufl. 1901. Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse. Leipzig: T.O. Weigel Nachfolger. (Erste und Zweite Auflagen auf archive.org verfügbar.)

—-. 1894. „Hypologie [Druckfehler: Typologie] der Sprachen, eine neue Aufgabe der Linguistik“, in: Indogermanische Forschungen IV, 1-7. (Auf archive.org verfügbar.)

Jespersen, Otto. 1894. Progress in Language. London: Swan Sonnenschein and Co. (Auf archive.org verfügbar.)

How to cite this post:

Ezawa, Kennosuke. 2013. ‘Gabelentz — Grammatiker einer Sprache ohne Grammatik.’ History and Philosophy of the Language Sciences. https://hiphilangsci.net/2013/04/24/gabelentz-grammatiker-einer-sprache-ohne-grammatik/

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6 comments on “Gabelentz — Grammatiker einer Sprache ohne Grammatik
  1. James McElvenny says:

    Vielen Dank für einen sehr interessanten Blog! In Bezug auf den Beitrag von Gabelentz zur Entwicklung der Sprachtypologie könnte man vielleicht den 1975 erschienen Artikel von Morpurgo-Davies erwähnen. Obwohl diese Studie schon ziemlich alt ist, bietet sie immer noch den umfassendsten Überblick über die vergleichende Sprachwissenschaft und morphologische Sprachtypologie des 19. Jahrhunderts:

    Morpurgo-Davies, A. 1975. ‘Language classification in the nineteenth century’, in Current trends in linguistics: historiography of linguistics, edited by Thomas A. Sebeok, 607-716. The Hague: Mouton.

    Es würde mich interessieren, wie genau Gabelentz Jespersens ‘Progress-in-Language’-Theorie Anstoß gegeben hat. Gabelentz war ohne Zweifel Verfechter einer neuen respektvolleren Einstellung zu isolierenden Sprachen, trotzdem scheint er in seinen früheren Schriften die Ansicht zu teilen, dass was sich nicht ändert ehrwürdig ist. Er spricht vom ‘Verfall’ der Grammatik in den modernen europäischen Sprachen und preist das ‘innerste Lebensprinzip’ des Chinesischen:

    Es liegt nahe und ist für den Sprachphilosophen nicht ohne Interesse, das Chinesische seinem Baue nach mit gewissen neueren europäischen Sprachen, etwa der englischen oder französischen zu vergleichen. Diese streben, so scheint es, dem isolirenden Typus zu: Schwund der Wortformen und der durch Letztere möglichen Freiheit der Wortstellung, Ersatz jener Formen durch Stellungsgesetze und Partikeln. Allein eben an dieser Stelle zeigt sich ein bedeutsamer Unterschied: was bei uns Folge des Verfalles, neuer Erwerb, — das ist im Chinesischen, so weit wir es zurückfolgen können, erstes, innerstes Lebensprinzip. In der lebendigen Rede des heutigen Chinesen herrschen dieselben Stelleungsgesetze wie in den ältesten Theilen des Schu-king.
    (Gabelentz, ‘Beitrag zur Geschichte der chinesischen Grammatiken’, 1878:642; meine Hervorhebung)

    Später war Gabelentz ein überzeugter Vertreter der ‘Spirale’-Theorie (z.B. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft, 1901[1891]:255-258). In dieser Hinsicht kann der Einfluss von Gabelentz auf Jespersen nur äußerst indirekt gewesen sein: vielleicht hat er Jespersen die Möglichkeiten der isolierenden Sprachen erblicken lassen, aber er hat den Glauben von Jespersen an ‘Progress’ in der Sprache sicherlich nicht geteilt.

  2. Ken Ezawa says:

    Lieber James,

    danke für deinen sehr guten Kommentar.

    Wertungen (Gabelentz selbst gebraucht bekanntlich den ungewöhnlichen Ausdruck “Würderung”) hinken immer. Die Spirallauftheorie ist ein Kompromiss. Der Trieb, im Ursprung die Vollendung zu sehen, ist offenbar biologisch begründet.

    Ich fand es einfach eindrucksvoll, dass ein westlicher Sprachforscher des 19. Jahrhunderts aufgrund seiner Auseinandersetzungen mit östlichen Sprachen, besonders dem Chinesischen und dem Japanischen, zu einer Anschauung gelangen konnte, die die Entwicklungen der internationalen Linguistik seither vorwegnahm.

    Welchen großen Beitrag ein Vergleich in der linguistischen Arbeit leisten kann!

    Herzliche Grüße
    dein Ken Ezawa

  3. nick riemer says:

    Thanks for this informative post. You say that the pragmatic perspective Gabelentz brought to bear revealed grammatical phenomena which wouldn’t otherwise have been noticed, and you cite as an example German article use. It strikes me that this touches on a question of great interest for the history of Linguistics, namely the processes by which regularities in language come to the attention of the discipline. The history of Linguistics can no doubt be seen as that of the expansion of the domain of language phenomena taken to be regular and so susceptible of study. The very development of systematic research into syntax in the 20th century is an example; another is the cognitivist hypothesis of the systematicity of metaphor, previously considered the arena par excellence of creative and so irregular language use; the study of semantic change, colour vocabulary, intonation and many other linguistic phenomena has also revealed areas where language phenomena previously assumed to be chaotic have turned out to permit at least some generalizations. Thrax’s grammar already clearly evidences an almost fetishistic desire to impose regularity on Greek with its exhaustive drawing of spurious semantic distinctions within the vocabulary. I wonder whether there’s been much work on the conditions under which new linguistic phenomena have been identified in the discipline. Are there any trends we can notice in the way that researchers in different periods have isolated new phenomena as open to study?

    • Ken Ezawa says:

      Sehr geehrter Herr Riemer,

      ich freue mich sehr über Ihre positive Reaktion auf meine “evolutive” Bemerkung zum Fortschritt der Wissenschaft, besonders in der Linguistik.
      Ich wollte besonders darauf hinweisen, dass der fundamentale Wechsel des Gesichtspunktes von der objektivierenden zu einer subjektivierenden Wissenschaft gerade in der Linguistik ungeahnte Chancen für die Grammatik eröffnet hat.
      In anderen Wissenschaften vollzieht sich meiner Ansicht nach auch ein analoger Wandel. Die “Naturwissenschaft” wird heute zu einer “Lebenswissenschaft” und dadurch die Wissenschaft der Realität zu einer Technologie der Realität.
      Statt der “Kategorien” der traditionellen, analytischen Grammatik werden (phänomenologisch erfassbare) “Bedeutungsformen” (imi-keitai) in der neuen, synthetischen Grammatik erforscht. Der Artikel kann nur als solches “Phänomen” systematisch erfasst werden, nicht als “Wortart”.
      Der japanische Sprachforscher Tsugio Sekiguchi (1894-1958) hat dies in seiner “Synthetischen Grammatik des Deutschen, ausgehend vom Japanischen” (2008) eindrucksvoll demonstriert.

      K. Ezawa

  4. […] 1 Jespersen’s theory of ‘Progress in language’ has already been mentioned on this blog in a post by Kennosuke Ezawa. […]

  5. […] sprachtheoretische Ansatz führt zum Konzept einer „synthetischen Grammatik“ (vgl. mein Blog vom 24. 4. 2013), die von einem grammatischen Inhalt, etwa „Allheit“, ausgeht und zu einer bestimmten Form, […]

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